Wenn ich es verstehen kann

verstehen

Etwas verstehen ist für mich wichtiger, als zu lernen. Das war schon in meiner Schulzeit so. Auswendig lernen lag mir weniger. Sprachen und Vokabeln pauken mochte ich nie wirklich. Die Logik, zum Beispiel hinter einer mathematischen Berechnung, zu erkennen, fand ich viel interessanter.

Natürlich ist Wissen aneignen und lesen eine wesentliche Voraussetzung für ein verstehen können. Ohne Hintergrundwissen ist begreifen oft nicht möglich. Anderseits hilft mir das einfach nur nachdenken genauso wie das nachschlagen. Ich muss nicht alles wissen, ich muss nur wissen, wo es steht. Und Mut zur Lücke haben. Denn perfekt ist niemand.

Diese Herangehensweise ermöglicht mir persönlich, nicht nur Probleme zu lösen, sondern auch andere Menschen besser zu verstehen. So glaube ich jedenfalls. Einbildung ist auch eine Bildung.

Bestimmt liegt die Ursache dieser „Weisheit“, wie so vieles, tief in meiner Kindheit verwurzelt. Insbesondere mein Vater war, aus meiner Sicht als Kind, nicht zu begreifen. Stimmungen, die sich wie im Wind drehten, verunsicherten mich zutiefst. Auch seine Gewaltausbrüche waren unberechenbar. Gepaart mit seiner Alkoholsucht war meine Kindheit kein Garant für die Entwicklung meiner inneren Selbstsicherheit. In seinen Augen war ich eine Memme. Ein „Indianer“ kennt keinen Schmerz, ein Junge weint nicht, waren seine Worte.

Wenn ich aber nur darauf blicke, was war, wie ich meinen Vater in Erinnerung habe, werde ich seinem Charakter nicht gerecht. Nur wenn ich versuche, ihn zu verstehen, eingebettet in der Zeit, in der er lebte, mit dem Schicksal, das er erlitt, kann ich Erklärungen finden. Und nur so kann ich mich selber verstehen lernen. Denn ich bin nicht losgelöst, aus seiner Geschichte.

Ich bin auch der, der ich bin, weil er so war, wie er war.

Anders hätte ich gleichermaßen aus dem Kreislauf des nicht verzeihen nie herausfinden können. Ich wäre gefangen geblieben im Selbstmitleid. Alle anderen sind schuld. Ich arme Seele kann nicht anders.

Nur im Verständnis konnte ich diesem Strudel entkommen. Dabei bin ich bestimmt nicht immer fehlerlos. Ich begreife mein Leben als einen Weg. Einen Lebensweg, den ich gehe.

Darum geht es meiner Ansicht nach. Nicht irgendwas zu sein, schon gar nicht fertig, sondern auf dem Weg zu sein. Menschen, wie mein Vater, haben sich selbst verloren. Im Krieg als Soldat, der keine Gefühle haben darf, als Maschine des Todes. Als Verwundeter in Gemüt und Körper. Als aus seiner Heimat Vertriebener, der Hab und Gut verloren hat. All das in einer Epoche, in der das Rollenverständnis zwischen den Geschlechtern noch festgelegter war als heute.

Und was für meinen Vater gilt, gilt für jeden Menschen: einjeder ist mehr oder weniger ein Gefangener der Umstände. 

Bewertung ist immer schwer und kann überhaupt nur im Kontext der jeweiligen Zeit stehen. Beurteilungen sind meiner Ansicht nach wenig zielführend. Denn ich habe kein Recht auf einen Urteilsspruch.

Ich muss nichts gut finden, nicht alles akzeptieren. Aber das ist meine persönliche subjektive Sichtweise. Das ist nie objektiv. Kann es gar nicht sein. Denn ich habe es nicht miterlebt, war nicht dabei, was beispielsweise mein Vater erleben musste.

Jeder ist ein Kind seiner Zeit. Die Zeit prägt jeden Menschen. Die Werte einer Gesellschaftsepoche sind die Basis für das Denken, das Verhalten jedes Menschenkind. Ist es akzeptiert, so kann jemand, als größter Verbrecher, ein Land regieren. Jahre später kann das komplett anders aussehen.

Anderseits hat jeder auch seine persönliche Richtschnur. Das vorherrschende Denken steht nicht über den persönlichen Werten. Daher sprechen die vergangenen Zeiten meinen Vater keineswegs frei. Denn er hatte Verantwortung für sein eigenes Leben, sich selbst. Und für seine Familie, insbesondere auch für seine Kinder. Wie jeder Mensch. Aber hatte er überhaupt je ein Bewusstsein für diese Verantwortlichkeit?

Jedes Gehirn denkt nicht ohne Beeinflussung. Wie und was ich denke, wie ich danach handel, ist im Gehirn verdrahtet. Wenn ich immer das Gleiche denke oder denken muss, so festigt sich das. Beispielsweise übermäßiger Alkoholkonsum verstärkt die Struktur im Kopf. Unbeeinflusst von außen ist niemand.

Wenn ich in meiner Angst gefangen wäre, dann festigt jede Sekunde meiner Sorgen die Bangnis in meinem Gehirn. So bedarf eine Änderung des eigenen Lebens die Umprogrammierung des Gehirns durch ein verändertes Denken. Und neue Erfahrungen. Das Gehirn kann das. Wenn ein Wille noch da ist, da sein kann.

Und es bedarf den Mut, sich selbst ins Gesicht zu sehen. Ehrlich zu sich selbst zu sein und sich selbst auch infrage zu stellen. Wie schwer ist das wohl.

Von außen kann man viel fordern. Mach was aus deinem Leben. Nehme es in die Hand. Aber das schlägt fehl, wenn die eigene Einsicht fehlt. Und wo soll diese herkommen, wenn das Gehirn gar nicht mehr anders denken kann, weil es das nie wirklich durfte oder es gefangen ist im Gedankenkarussell.

Als Außenstehender kann man wenig helfen. Die Mauer des Schutzschilds ist fest wie Stein. Vielleicht, wenn man es einfach nur schaffen kann, da zu sein. Zuzuhören, möglichst ohne Druck aufzubauen und ohne alles besser zu wissen. Ohne Abwehr zu provozieren. Dafür voller inniger und aufrichtiger Zuneigung. Die einfach nur da ist, ohne Muss und ohne Wenn und Aber.

Kein Mensch ist vollendet. Es ist nicht einfach. Aber wer hat das auch behauptet.

Diese ganzen Zusammenhänge sind bestimmt viel komplexer. Die Mechanismen werden weit mehr Ursachen haben. Es ist einfach nur mein ganz persönlicher Versuch, das Leben zu verstehen.


Erstellt am 21.01.2025, letzte Änderung am 21.01.2025 von Michael

0 Kommentare

Hinterlasse ein Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar! Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert