Familiengeschichten
Schon als Junge war er mit dabei. Alle seine Freunde waren es. Viele aus der Straße und fast alle aus seiner Schule. Wie hätte er es da denn anders machen sollen. Er wäre ein Außenseiter gewesen, andere hätten ihn gemieden, gehänselt oder verprügelt. Nein. Da hat er lieber mitgemacht. Das war wirklich besser für ihn. Er hat nicht lange darüber nachgedacht. Besonders schön war es, wenn ihm die Mädchen nachblickten. Das hat ihn geschmeichelt. Er sah aber auch schick aus, in der Uniform. Den Schulabschluss machen, war unwichtig. Dafür durfte er in den Krieg. Für das Vaterland. Er durfte stark sein. Ein Mann sein, wie sein Vater. Das Leben ist so viel einfacher, wenn man dazugehört. Zusammen mit seinem besten Freund, und allen Jungs aus seiner Klasse, wurden sie gefeiert, als sie am Bahnhof in den Zug stiegen. Sie waren Kameraden und zogen in den Krieg.
Nur er kam zurück. Als Invalide. Schwer verwundet. Wie viel Tod hatte er gesehen, wie viel Tod hatte er gebraucht. Seine Frau weinte oft, wenn er einen Wutanfall hatte, sie schlecht behandelte, sie schlug. Das viele Blut, der Tod des Krieges, hatten ihn abgestumpft. Ihn gefühllos gemacht. Aber daran denken, sich erinnern, wollte er nicht. Schweigend schlug er seine Frau, schlug seine Kinder. Die waren aber auch laut. Er war doch im Krieg gewesen, er war ein echter Mann, und er durfte das, dachte er, ohne darüber nachzudenken. Gewalt war die Sprache, die er gelernt hatte. Und zu funktionieren, wie ein Soldat. Seine Frau hatte ihn verlassen. War mit den Kindern gegangen, als er wieder mal angetrunken nach Hause kam, war keiner mehr da. Als er aufwachte, war er alleine. Dass das der Preis war, den er zahlen musste, hat er nie begriffen. Er war doch ein Mann.
Sie war seine Frau. Er sah aber auch attraktiv aus, in seiner Uniform. Wie oft dachte sie an ihn, als er Monate im Osten war. An der Front kämpfte. Sie weinte nicht mehr, wenn andere wieder vom Amt Post bekamen, wieder Helden den Tod gefunden hatten. Zu Weihnachten kam er nach Hause. Sie lagen die ganzen Tage im Bett. Draußen war es aber auch kalt. Am zweiten Weihnachtstag musste er wieder los. Sie hatte noch Tränen für ihn.
Manchmal dachte sie an ihre beste Freundin. Sie studierte in der Zeit des Krieges in München. Wenn sie nach Hause kam, trafen sie sich. Sie und ihr Bruder verteilten Flugblätter, erzählte sie ihr. Damit machten sie aufmerksam auf die Missstände, den Irrsinn des Krieges, die unzähligen, unnötigen Opfer. Sie erhoben ihre Stimme gegen die Willkür, die Verfolgung, die Ungerechtigkeit. Wie mutig sie waren. Jedoch, eines Tages, ihre Freundin war schon Wochen nicht mehr zu Hause gewesen, traf sie deren Mutter. Die Freundin wurde verurteilt und hingerichtet. Die unendliche Ungerechtigkeit macht müde und sprachlos. Aber das ist der Sinn dieses totalitären Regimes. Entweder man funktioniert in deren Sinn, oder man wird mundtot gemacht.
Ihr Mann, seine Kameraden, als junge Soldaten, haben perfekt funktioniert. Wie so viele andere. Bis es zu spät war.
Nach dem Krieg war er anders. Zumal seine Augen hatten jede Wärme verloren. Er schwieg. Wenn sie sonntags miteinander ins Bett gingen, lebte keine Zärtlichkeit mehr. Sie ließ es zu, aber es fühlte sich nicht gut an. Mehr wie eine Vergewaltigung. Er erzählte nie etwas, er trank mehr, als gut für ihn war. Er schlug um sich. Die Liebe fand den Tod. Bis sie es nicht mehr aushalten konnte und mit den Kindern zu ihren Eltern floh.
Er hatte andere Menschen getötet. Im Krieg. Menschen. Väter. Oder fast noch Kinder. Mit einer liebenden Mutter zu Hause. Nur weil einige Menschen meinten, ihre Fantasie eines Großreichs umsetzen zu müssen, werden Menschen zu Tätern und Opfern. Werden Menschen schwer traumatisiert. Nicht jeder Soldat wird später ein gewalttätiger Mann. Aber das Erleben im Krieg kann nicht ohne Folgen bleiben, nicht nur für die direkt betroffenen Menschen, sondern auch für die Kinder und Enkelkinder. Und man kann im nach herein einfach sagen, warum hast du nicht … Wie auch, wenn vielleicht jedes Gefühl für Verantwortung im Grauen des Krieges zu Nichte gemacht wurde …
Konnte er es anders machen? Konnte er sich helfen lassen? Um den Krieg überhaupt auszuhalten, stand er unter Drogen. Welche Nebenwirkungen diese haben könnten, auch als der Krieg endlich vorbei war, ist nicht bekannt. War er klar genug, um überhaupt noch begreifen zu können, erkennen zu können, dass sein Handeln, seine Gewalt, jetzt nicht mehr sein darf? Oder lebte er nur noch in einer Welt, die einen nichts mehr fühlen lässt. Die einem die Wirklichkeit nicht mehr begreifen lassen kann. In der einem das Ausmaß des eigenen Seins nicht bewusst sein kann. In der Verdrängung und Vergessen die einzige Möglichkeit ist, um am Leben bleiben zu können. Weil das Erlebte einen, in seiner Schrecklichkeit, jeden Verstand nehmen würde. Weil das Bewusstsein für das eigene Tun tot ist. Abgestorben.
Und die Kinder. Natürlich haben sie als Kinder alles mitbekommen. Waren einer Gewalt ausgesetzt. Kinder können sich aber nicht erklären, woher diese Gewalt zum Beispiel kommen könnte. Sie sind einer Ungeduld ausgesetzt, einer Wut. Sie erleben eine Lieblosigkeit. Und sie erleben auch eine Liebe. Sie erleben Spaß und Freude. Sie erleben Anforderungen und Strafe. Aber es wird wenig erklärt. Sie erfahren eine große Unsicherheit. Sie können die Widersprüche nicht erklären. Keiner erklärt es ihnen. Das macht was. Die erlebte Zeit der Eltern lebt in den Kindern weiter. Schlimme Zeiten, wie der Krieg, leben entsprechend weiter. Und führen, so unverarbeitet sie bei den Eltern waren, zu Unsicherheiten der Kinder. Selbstvertrauen haben zu können, müssen diese Kinder mühsam lernen.
Vielleicht lernen die Kinder, ähnlich wie die Eltern zu werden, schauen sich die Verhaltensmuster ab. Vielleicht denken sie weniger nach, wie die Eltern. Weil es so vielleicht einfacher ist. Vielleicht machen sie alles auch ganz anders. Und übertragen die Schuld des Vaters auf andere Männer. Vielleicht fühlen sie sich selber schuldig und können Gefühle zulassen, vielleicht auch nicht. Macht die Verantwortungslosigkeit der anderen sie zu besonders verantwortungsvollen Menschen? Vielleicht lebt die Härte in ihnen weiter. Jeder Mensch wird anders reagieren, aber egal wie, es ist eine Auswirkung von dem, was war. Auch vor ihrer Zeit. Weil dies so ist, sollten wir uns hüten, zu bewerten, zu urteilen. Es ist nie eindimensional und einfach.
Sein Vater war im Krieg gewesen. Er, das Kind musste vorsichtig sein. Was erwartet ihn heute. Plötzlich könnte die Stimmung kippen. Dabei wollte er es doch nur allen recht machen. Aber er wusste nie wie. Das er dabei nicht depressiv oder schizophren wurde, grenzte an ein Wunder. Er schwieg nur.
Irgendwann ging er mit seiner großen Schwester und mit Mutter fort. Kurz danach zogen alle bei den Großeltern ins Haus. „Wo ist Vater?“ „Er kann nicht hier sein.“ „Warum, ich verstehe das nicht.“ „Du bist noch zu klein, um das zu verstehen.“ „Ich gehe spielen.“ Seinen Vater sah er nie wieder.
Er arbeitete viel. Machte ein bisschen Musik mit Freunden. Dein Vater war schwer krank, traumatisiert, erzählte der Großvater. „Du weißt, der Krieg. Jetzt ist er tot.“
Oftmals war er traurig, konnte es sich aber nicht wirklich erklären. Frauen mochte er nicht so sehr. Eher sehnte er sich nach seinem Vater. Die Beziehung zu seinem ersten Mann lief gut. Aber irgendwann ging er. „Ich will nicht dein Vater sein.“ Waren seine letzten Worte. Wieder war er enttäuscht. Und traurig. Dann traf er sie auf Arbeit. Ein neues Glück. Denn das Kinderlachen des Babys freute ihn am meisten. Das war das Wichtigste.
Er saß auf einer Bank. „Darf ich mich zu ihnen setzen?“ Der junger Mann war sehr freundlich, beide kamen ins Gespräch. Bald, ein paar Tage später fragte er ihn, ob seine Frau wissen würde, dass er schwul sei. „Nein. Sie darf das nie erfahren, sie würde mich verlassen.“ Verlassen zu werden, war seine große Angst. Dann lieber alleine sein.
Eine Woche später unterschrieb er beim Verfassungsschutz. Immer öfter spionierte er somit seine Kollegen, seine Freunde aus. Berichtet bald über vieles. Er funktioniert wie eine Marionette. Sowie sein Vater funktioniert hatte. Als dieser als Soldat im Krieg war. Zwar gibt es verschiedene Gründe einfach mitzumachen, zu funktionieren. Abe ein paar Mark bekam er auch dazu, und das Auto, und manchmal merkt man es gar nicht, man rutscht hinein. Man wird Täter und Opfer, wie auf leisen Sohlen. Man fühlt sich auch nicht schuldig, es geht doch um eine gute Sache. Zumal man sich das nur einredet, um sich vor sich selbst zu rechtfertigen? Macht man es sich bewusst, was es für andere bedeutet? Wie viele schickte er in das Gefängnis? Er wusste es nicht. Er wollte es auch nicht wissen.
Dabei bewunderte er seine Schwester. Eines Tages erzählte sie ihm in aller Offenheit, dass ihr betrunkener Vater versucht hatte, sie zu missbrauchen. Mutter ging dazwischen. Einen Tag später waren sie mit Mutter zu den Großeltern gezogen. Ach darum. Davon hatte er keine Ahnung. Nur Offenheit kann helfen, meinte seine Schwester. „Mein Mann weiß es. Meiner Tochter habe ich es erzählt, als sie sich nach ihrem Großvater erkundigte. Ich versuchte vom Krieg zu erzählen, und was er mit Menschen macht“, sagte sie. „Und ich wollte, dass meiner Tochter nie etwas wie mir passiert, dass sie nie Angst haben muss. Das sie nicht einfach nur funktioniert.“ Seine Schwester ist eine kluge Frau. Er bewundert sie.
Man muss nicht funktionieren. Zwar kann sich auch entscheiden, es anders zu machen. Mutter erzählte von ihrer Freundin, die hatte das anders machen mit dem Tod bezahlt. Ja. Auch das kann sein.
Er erzählte nie von seiner Zeit als informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Ständig lebte er mit der Angst, es könnte ans Tageslicht kommen. Er schämt sich zu sehr. Sein Sohn fragt: „Warum siehst du manchmal so traurig aus, bin ich schuld?“ „Nein. Du bist nicht schuldig. Wenn überhaupt einer Schuld haben könnte, ist es dein Großvater, mein Vater. Aber um Schuld geht es nicht. Ich erzähle es dir, wenn du groß bist.“ „Vergesse es nicht.“ Er denkt: Mein Sohn ist wenigstens so klug wie meine Schwester.
Ich habe mir die Personen, die Geschichte ausgedacht. Menschen glauben, was sie glauben wollen. An Gott, Hexen, an einen Führer. Das macht sie willig zu funktionieren. Wer ausbricht, anders ist, der wird es schwerer haben. Die Vielfalt des Lebens, der Menschen, macht Angst. Machtkampf. Mit allen Mitteln. Dann darf das andere nicht sein, wird als Bedrohung gesehen. Ein Feind darf, muss verfolgt werden. Dieser Kreislauf, meine ich, sollte durchbrochen werden. Aber es ist so unendlich schwer. Wie meine Geschichte zeigt.
Erstellt am 22.07.2019, letzte Änderung am 13.06.2023 von Michael