Totschweigen

Usedom

Unser Viertel wurde im Krieg nur wenig zerstört. Ich bin alleine zu Hause. Mutter ist mit ihren alten Schuhen im Einkaufsnetz los zum Schuster. Die müssen mal wieder neu besohlt werden. Komisch nur, dass sie so spät am Nachmittag, kurz vor Feierabend, aufgebrochen ist. Wo Mutter wohl bleibt? Die alte Uhr im Wohnzimmer zeigt jetzt schon kurz vor neun. Warum hat Mutter sich den Lippenstift aufgelegt?

Vater kam nicht zurück. Ist im Krieg geblieben, sagt Großmutter nur. Auch mein Großvater und mein Onkel sind noch nicht zurück. Vom Onkel kam ein kurzer, trauriger Brief aus seiner Kriegsgefangenschaft.

Gestern kam Großmutter zu uns, mit einem Beutel Kartoffeln. Zusammen mit meinem Onkel. Seit langen wieder kochte Mutter Pellkartoffeln. Das rechte Bein meines Onkels ist steif. Sein Gesicht schimmert grau, seine Hosen schlackern lose um seine dürren Knochen. Alt sieht er aus, mit 25 wirkt er wie mit über 50. Über seine Kriegserlebnisse schweigt er, gestern, heute und auch morgen. Jeden Tag dunkles Schweigen. Totschweigen. Scheint wohl richtig zu sein.

Dass mein Onkel homosexuell war, haben wir auch erst nach seinem plötzlichen Ableben zufällig erfahren. Nicht etwa, dass irgendwer darüber geredet hätte.

Umzug. Heute sind Mutter und ich beim Schuster in sein Haus eingezogen. Keine Diskussion, meinte Mutter ein paar Tage vor ihrer Hochzeit.

Zu meinem Geburtstag hat Stiefvater mir ein Kleid geschenkt. Ich weiß gar nicht, warum ich mich darüber nicht so richtig freuen kann. Wenn er und ich alleine zu Hause sind, fordert er mich auf, das Kleid anzuziehen. Ich schlafe jetzt öfter bei meiner Freundin.

Eklig. Ich kann gar nicht aufhören zu weinen. Letzte Nacht kam er einfach in mein Zimmer geschlichen. Er hat mir verboten, was zu sagen. Du machst sonst alles kaputt, daran hast du dann Schuld. Du bist doch selber Schuld, wie du immer rumläufst.

Wie war dein Tag, fragt Mutter. Alles gut, lüge ich. Mutter ahnt nichts. Weiß nichts. Jeden Mittag kommt ein warmes Essen auf den Tisch, sonntags mit Fleisch. Ich hasse ihn.

Keiner wird mir glauben.

Es ist einfacher, einer Unwahrheit zu glauben. Der immer witzige Schuster. Das kann doch nicht sein. Meine beste Freundin hat nur ihren neuen Freund im Kopf. Mutter hat keine Zeit. Meine Halbschwester ist immer die kleine Süße. Ich bin alleine mit all dem. Schweigen scheint wohl das Beste zu sein, in meiner unendlichen Scham.

Ich habe mein Abi geschafft. In ein paar Tagen ziehe ich endlich aus.

Der Schuster ist tot. Auf seiner Beerdigung waren alle sehr traurig. Ein so lebenslustiger, herzensguter Mensch wird uns fehlen, sagten alle. Keiner hat ihn wirklich gekannt, so wie ich sein wahres Gesicht nicht nur gesehen, hinter seiner Fassade. Ich werde schweigen, auch mein Freund, ob ich ihn liebe weiß ich nicht, aber er ist sehr nett, wird mein Geheimnis nie erfahren. Ich habe keine Worte dafür. Vielleicht, hoffentlich vergesse ich alles irgendwann.

Den zweiten Mann meiner Oma habe ich nie kenngelernt, ich weiß nur, dass er Schuster war. Wie tief das Trauma von Mama ist, kann ich nicht im Entferntesten erahnen. Mit ihrem älter werden, wiegt es immer schwerer. Ich würde mir so sehr wünschen, dass sie darüber redet. Wenigstens anfängt zu erzählen. Papa, den Mama seit ihrer Jugend von zu Hause kennt, mit dem sie als ganz junge Frau weggezogen ist, weiß nichts. Sie hat nie etwas gesagt, nicht mal angedeutet, meint Papa kopfschüttelnd. Alle anderen, die etwas wissen könnten, sind tot. Die im Schweigen meiner Mama gehüllte Stimmung drückt schon immer auch auf meine Seele. Es ist so schön und doch so schwer nach Hause zu kommen. Mein Liebster und ich können es nur anders machen. Nur anders leben.

Erstellt am 20.08.2022, letzte Änderung am 07.06.2024 von Michael