Vom ich zum du
Vom ich zum du. Wer bin ich? Ich könnte mit maximaler Geschwindigkeit die Landstraße entlang düsen. Über jeden langsameren Autofahrer ärgerte ich mich, der wieder ein Verkehrshindernis sein würde, das meine Freiheit einschränkte. Und egal wie knapp es werden würde, ich würde überholen, was scherte mich die durchgezogene Mittellinie. Ich dächte an mich, mein Privileg, mein Gefühl von Ungebundenheit.
Ich kann mit achtzig fahren und vorausschauend bremsen. Und mich über jeden Zehntelliter weniger Benzin freuen, den ich verbrauche, den ich verbrenne, wodurch ich ein klitzekleines bisschen weniger Schadstoffe in meine Umwelt blase. Ich kann an Mutter Natur, das du, denken. Und dass von mir weniger Gefahr für andere ausgeht.
Es ist immer eine Frage der Perspektive und die des Gefühls, das ich persönlich damit verbinde.
Selbstverständlich bleibt es wichtig, dass ich mich selbst nicht aus den Augen verliere. Ohne Wenn und Aber. Mein Blick auf mich, genauso wie die Sicht auf die anderen, dem du, bleibt unverstellt.
Verantwortung für mich selbst tragen ist kein Egoismus. Aber die Grenzen sind fließend. Wenn ich Bewusstsein für mich übernehme, ist das ein erster Schritt, auch anderen zu zeigen, dass das du sich auf mich verlassen kann und vielleicht nur ein wenig mehr mit Verantwortlichkeit zu handeln.
Dagegen wäre mit meinem Helfersyndrom dem anderen auch nicht unbedingt geholfen. Eigenständigkeit, Selbstwertgefühl zu fördern, ist ebenso klug. Für wem mache ich es, ist die Frage. Ich bin das Netz, der doppelte Boden, die Sicherheit. Aber ich stehe nicht vor dem anderem, dem du, versperre nicht den Blick auf sich selbst. Ich stehe neben ihm, und wenn es das du möchte, dann reiche ich meine Hand. Das Können ist, dafür mein Gespür zu entwickeln.
Ich bin nicht vollkommen, ich bin auf dem Weg, mein Leben lang. Du bist mein Netz, mein doppelter Boden. Und reichst mir deine Hand.
Ich könnte es genießen, ich könnte es für mein Seelenheil brauchen, wenn ich mich total verausgaben würde, mit dem Sport, den ich betriebe. Den Triathlon, den ich gewinnen würde. Die Muskeln, die ich fühlen würde. Jeder Schweißtropfen wäre mein Elixier. Egal wo ich bin, ich würde mich sehen, mich fühlen. Ich trainierte, um auf dem Rad noch schneller zu werden. Meinem Körper ginge es gut, ich fühlte mich fit.
Es wäre mein Ausgleich zum stressigen Beruf. Es wäre meine Ablenkung von den Anforderungen, die meine Familie, meine Kinder jede Minute stellen würden. Endlich könnte ich mich spüren.
Dabei zu erkennen, was ich so vielleicht hinter einer Maske vor mich und dem anderen, dem du, verberge, dass weiß ich nicht wirklich.
Ich kann ganz „normal“ laufen. Ich kann dabei hinschauen, das andere sehen. Die Pflanzen am Wegesrand, das Lichtspiel in den Blättern. Das Besondere, das Einzigartige in der Natur. Ich kann den Wind spüren, das Meeresrauschen genießen. Ich kann mich auf mein menschliches Tempo einlassen und dabei, weil ich nicht zu schnell dafür bin, das andere, das du, Hautnahe erfahren. Ich kann mich in dem, was ist, fühlen. Ich brauche nicht im Gegensatz den Kick suchen, in allem, was immer wieder neu sein muss.
Wieder könnten meine Kinder stören, ich könnte mich nicht konzentrieren können. Ich würde ungeduldiger werden, ich würde nichts erklären, dafür hätte ich keine Zeit. Ich müsste das doch noch fertig bekommen. Jetzt wäre ausruhen angesagt, seid Mucksmäuschen still, ihr anderen. Und mein Vater hat es früher auch getan, das hat mir doch auch nicht geschadet. Und meine Mutter hat es doch genauso gemacht. Das kann doch nicht falsch sein.
Und ich kann mich auf den Boden setzen. Zuschauen, was meine Kinder spielen. Zeit haben. Mich darauf einlassen, wie bereichernd es ist, zu sehen, was Kinderaugen vielleicht zum ersten Mal erblicken. Mit meinen Erfahrungen kann ich ihnen helfen, Antworten auf ihre Neugierde in sich selbst zu entdecken, ohne sie zu bevormunden. Ohne mich größer zu machen, als die Kleinen. Denn alles, was ich weiß, ist meine persönliche Wahrheit, muss aber nicht auch die des anderen, des du, sein oder werden. Jeder hat seine persönliche Wahrhaftigkeit, und dass diese gefunden und gelebt werden darf, bedeutet Freiheit.
Arbeitsteilung, du könntest das, ich könnte dieses erledigen. Damit wären wir doch sehr viel produktiver, und wieder hätten wir Zeit gespart. Zeit ist Geld. Ja aber, das würdest du schon schaffen, stelle dich nicht so an. Andere haben das auch bewerkstelligt. Die anderen wären mein Vorbild, an dem ich mich messe.
Wir machen es gemeinsam. Nicht alles, einjeder braucht seinen Raum, seine Zeit für sich. Zusammen erledigen, denn so fällt es leichter. Und uns dabei die Zeit lassen, die es einfach braucht. Keine steht mit einer Stechuhr hinter uns und treibt und an, tritt uns in den Allerwertesten. Viele Augen sehen mehr als zwei. Super, deine Idee, es so zu machen.
Hier könnte doch noch ein Komma fehlen, noch einmal und abermals müsste ich es besser machen. Perfekt, bis ich mich darin spiegeln könnte. Es glänzt wie Gold, kein anderer Mann bekäme es besser hin als ich. Da würde ich doch noch einen Fehler entdecken, ein Haar in der Suppe. Und wenn es irgendwann später nicht mehr vollkommen sein würde, dann kaufte ich es neu, dass Alte käme auf den Müll. Es könnte schon ganz schön angejahrt sein. Mir gefiele es nicht, es wäre unmodern geworden, es könnte weg. Ich könnte es nicht mehr sehen wollen, es könnte technisch veraltet sein, zu langsam geworden, was soll ich noch damit.
Ach, es sieht nicht makellos aus, dort ist es schief. Das muss doch nicht der Maßstab sein. Der Weg ist das Ziel. Vollkommenheit liegt immer auch in den Augen des Betrachters.
Wie schön das ist, und über hundert Jahre ist es alt. Mit wie viel Handwerkskunst es hergestellt wurde, vom du. Die Schnitzerei, die Funktion, und nicht zuletzt das Material, das lohnt sich doch zu reparieren, was der Meister damals geschaffen hat. Ein bisschen Farbe, und es eröffnet einen ganz anderen Blick auf das Können der Vergangenheit. Und das hier können wir umfunktionieren, ihm einen neuen Sinn geben, es erhalten, reparieren, weil es wertvoll ist, als das, was es ist. Und die Patina, die braucht es, denn sonst erkenne ich kaum noch die Bedeutung, die es hatte, hat und haben wird.
Vom ich zum du
In allen Lebensbereichen zeigt sich im Umgang damit, ob wir uns selbst oder das andere bewahren. Was uns wirklich wichtig ist. Für was wir unsere Verantwortung übernehmen. Ein jedes hat seine Berechtigung, seine Zeit.
Jeder von uns ist sterblich. Wenn ich lebe, dann ist das Vergangenheit, mit jeder Minute, die vergeht. Ruhm ist vergänglich. Sobald ich das du erkenne und fördere, gedeiht vielleicht ein bisschen Unsterblichkeit. Mit der Erinnerung an das ich, dem Blick auf das du, hat das wir eine Zukunft. Das ist Michael’s Hoffnung.
Erstellt am 18.05.2025, letzte Änderung am 18.05.2025 von Michael