Die Wahrsagerin
Es war einmal und ist schon lange her. In einer kleinen Stadt im Norden des Landes lebte einst ein kleines Mädchen. Ihre Mutter war bei der Geburt gestorben, ihr Vater, ein fleißiger Zimmermann, war, das Kind hatte gerade seinen vierten Geburtstag gefeiert, vom Gerüst gefallen und drei Tage später der Mutter gefolgt. So lebte das Mädchen als Waise bei ihrer Stiefmutter. Mit jedem neuen Tag verblasste ihre Erinnerung an den Vater. Das Kind war sehr in sich gekehrt.
Gerne kam der Bürgermeister zur jungen Witwe zu Besuch. Eines Tages war es dann soweit. „Willst du meine Frau werden? Aber dann muss die Kleine ins Waisenhaus, ich will meine eigenen Kinder mit dir haben und groß ziehen.“, sprach der Bürgermeister. Die Liebe zum Mann war entfacht, so ließ sich die Frau auf den Handel ein. Das Kind wurde schon am nächsten Morgen ins Waisenhaus gebracht. Keiner sah es, heimlich wischte sich das Mädchen eine Träne aus dem Auge.
Als die anderen Kinder später lachend und lärmend in den Essenssaal kamen, saß die Neue still auf ihren Stuhl. Nie lachte sie mit. Wurde sie angesprochen, nickte sie nur ein klein wenig, sagte nichts und ging fort. Das Mädchen suchte das Alleinsein. Ein paar Mal versuchten es die anderen Kinder noch, aber bald gaben sie auf. Keiner spielte mehr mit ihr. Bei allen hieß sie nur die Unnahbare. Dabei war sie fleißig wie ihr Vater. Sie sah die Dinge, die getan werden mussten, bevor man ihr sagen musste, was getan werden muss.
So wurde sie älter, Jahre später war sie zu einer jungen Frau herangewachsen. „Ich muss mich selber finden, keiner kann mir helfen“, dachte sie, „aber wie? Ich habe Angst vor Seelenfänger, die mir begegnen und mir Sand in die Augen streuen.“
Zu dieser Zeit war der große Jahrmarkt in der Stadt, alle paar Jahre kamen die Händler mit ihren Buden, die Gaukler und Wahrsager. »Wahrsagerin Annabella« stand auf dem Emailleschild vor einem kleinen Zelt am Rand des Festplatzes. Der Tee in der Kanne, ein frischer Blumenstrauß auf dem Tisch, es wirkte gemütlich. Eine alte Frau in bunten Kleidern saß vor dem Zelt im Schatten und beobachte die Menschen, die vorbei gingen. Auch die junge Frau betrachtete das Geschehen. Nicht wie die anderen, war die Alte. Sie saß einfach da, warb nicht für ihre Kunst, sagte kein Wort. Ein bisschen unnahbar wie ich, dachte die junge Frau. Das war ihr vertraut und zog sie an.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und ging auf die Frau zu. Runzlig war ihr Gesicht, aber ihre Augen waren jung geblieben. „Was möchtest du?“ „Kannst du mir die Zukunft vorher sagen?“ „Nein, das kann ich nicht“, sagte die Wahrsagerin ehrlich. „Aber komm in mein Zelt. Wahrsagen bedeutet, die Wahrheit zu sagen und nicht, die Zukunft vorhersagen. Das wird oft missverstanden.“ „Ich habe aber nur ein Paar Groschen.“ „Deine Eltern sind vor langer Zeit gestorben, aber du bist ein fleißiges Mädchen.“ „Woher weißt du das, Großmütterchen, ach ich vergaß, du bist ja eine Wahrsagerin.“ „Ich sah dich aus dem Waisenhaus treten, und deine Hände sprechen eine deutliche Sprache. Die Wahrheit zu sehen ist nicht immer ganz so einfach. Aber behalte deine paar Groschen, und trete ein.“
Im Zelt schien der Lärm des Marktes zu verstummen. „Ich kann dir nicht vorhersagen, dass dich ein Prinz heiraten wird, und ihr beiden glücklich bis zum letzten Tag sein werdet. Das passiert nur im Märchen aber das Leben ist kein Märchen. Ich weiß auch nicht, wie alt du wirst, ob du reich oder arm sein wirst.“ „Ich weiß“, flüstert die junge Frau ganz leise.
„Aber ich sehe, dass du auf der Suche bist, das ist gut. Manche Menschen wissen vielleicht gar nichts von ihrer Suche. Andere leben einfach ihr Leben, unreflektiert bestimmt von den Einflüssen der Erziehung und Gesellschaft. Sie sind angepasst und leben das nach, was ihnen Generationen vorgelebt haben. Wir lernen durch nachmachen und abgucken. Und wir sind nur allzu gerne bereit, schnell zu glauben. Hauptsache es klingt gut in unseren Ohren. Ich denke, wir Menschen müssen begreifen, dass wir auf dem Weg zu uns selbst sind. Unser Leben ist der Weg. Das Ziel zu erreichen ist unwichtig. Magst du mit mir kommen?“
Keine Menschenseele im Waisenhaus vermisste sie. Keiner wunderte sich, dass die junge Frau plötzlich nicht mehr da war. Außer die Oberin, der auffiel, dass die Treppe so schmutzig ist.
Annabella war eine gute Lehrerin. Mit viel Ruhe erklärte sie die Geheimnisse der Sterne und der Sternbilder zu den unterschiedlichen Jahreszeiten. Annabella sagte: „Kein Horoskop kann die Zukunft weissagen. Aber Sterne und Planeten stehen in Beziehung zueinander und beeinflussen sich durch Gravitation. Warum soll das nicht auch irgendwie das menschliche Leben beeinflussen? Menschen werden zu unterschiedlichen Jahreszeiten gezeugt und geboren, das könnte durchaus Einfluss auf die Seele haben. Durch Beobachtungen dieser Abhängigkeiten erkannten schon früh Astrologen sich ähnelnde Charaktereigenschaften. Diese ordneten sie dann den, entsprechend der Jahreszeit am Himmel sichtbaren Sternbildern zu. Und diese Ähnlichkeiten wiederum ermöglichen anderen Menschen, sich selbst wieder zu erkennen, wenn sie den Himmel anschauen und interpretieren. So kann die Astrologie durchaus ein Weg sein, sich selbst zu entdecken. Die Sprache der Sternbilder zu deuten, dabei helfe ich denen, die zu mir ins Zelt kommen.“
Ein paar Tage später legte Annabella Tarotkarten und erklärte der jungen Frau die Symbole und Bilder der abgebildet Figuren und Szenen. „78 Tarotkarten zeigen Bilder, die die Welt symbolisieren. Das bedeutet, mit dem Legen von Karten kann ich anderen helfen und seine Gedanken anregen, um so das eigene Ich über die Karten zu entdecken. Ich kann nicht, auch nicht anhand von Karten, die Zukunft weissagen, aber die bildliche Aussage ist eine Möglichkeit, Erkenntnisse über sich selbst zu erfahren. Was ruft eine bestimmte Karte an Emotionen wach, was fühlst du dabei?“
Nachmittags lud die Wahrsagerin immer alle Kinder zur Vorstellung ein. Bunte Decken wurden ausgebreitet. In der Mitte saß die alte Frau. Wie ausgewechselt war sie, zugewandt und mit fröhlicher Stimme, immer auch mit Schalk und Witz gepaart, erzählte sie spannende Geschichten. Gebannt und mucksmäuschenstill hörten die kleinen und großen Kinder und auch die Erwachsenen zu.
Am Abend in der Ruhe nach dem Sturm fragte die junge Frau die Wahrsagerin, warum sie so gerne Märchen erzählt. Annabella antwortete: „Auch in alten Märchen und Geschichten, sowohl wie in modernen Märchen schreiben und erzählen Menschen von ihren tiefen persönlichen Erfahrungen, Ängsten und Wünschen. Dabei finden sie Bilder, von denen manch einer sich angesprochen fühlt, die ihn berühren. Wenn man sich berühren lässt, empfindet man sich selbst. Dies ist weniger ein rationaler Prozess. Es ist der intuitive Weg des Gefühls zu sich selbst. Es kann ein Märchen sein, oder ein Liedtext, ein Roman oder ein Gedicht. Alles kann einem helfen, Gefühle wie Liebe und Angst, Traurigkeit und Glück in allen Facetten bewust zu empfinden.“
Zu fast jedem Menschen, der am Zelt vorbei ging, wusste die alte Wahrsagerin etwas zu deuten, am Schritt, am Gesicht, an den Händen, an der Kleidung und der Gestalt konnte sie lesen, wie in einem Buch. „Das Geheimnis ist, dass du lernst hinzuschauen. Wie ein Kind, für das alles noch neu ist, was es erblickt. Beobachte die Welt, und du erkennst, was Wahrheit und was Lüge ist. Aber die Wahrheit liegt nicht in den Sternen und nicht in den Karten. Die Bilder sind nur Symbole, um aufzuwecken, was in einen verborgen ist. Horoskope sind Hokuspokus. Ich halte nicht viel von esoterischen Weisheiten, aber ich denke, Menschen benötigen Hilfsmittel, Bilder und Glauben, um zu erklären und zu erkennen.“
Ein junger Mann mit schicken Hut ging vorbei. „Wie findest du ihn?“ „Sein Blick ist starr, sein Schritte sind lang und kräftig, er weiß genau, was er will. Dabei zeigt er aber wenig Gefühl. Vieles berührt uns emotional, aber Empfindungen werden oft nicht gerne zugelassen. Ihre Kraft kann auch verheerend sein, wenn Gefühle ungezügelt ihren Lauf nehmen. Aber Emotionen sind in uns, sie sind ein Teil von uns. Es hilft nichts, sie zu verleugnen.“
Die Wahrsagerin war eine gute Psychologin. Oft saßen die beiden Frauen stundenlang vor dem Zelt, philosophierten und überlegten, was das für ein Mensch sei, der gerade vorbei ging. Dabei machten sie sich nie über andere lustig. Ein großer Ernst lag in ihren Beobachtungen.
Aber manchmal, nach einem langen Tag, achtete die Wahrsagerin nicht so sehr auf ihre Worte. Dann zog sich die junge Frau in sich zurück. „Du bist so empfindlich. Ich traue mich manchmal gar nicht, das oder jenes anzusprechen. Du reagierst dann so überempfindlich.“ Die junge Frau entgegnete: „Vielleicht ist das genau das Gute, das Positive in mir. Vielleicht ist es meine Kraft, sensibel und empfindlich zu sein. Es ist anders, es macht Angst, weil es mit rationalen Gedanken so wenig erklärlich ist. Es ist nicht logisch wie eins und eins gleich zwei ist. Vielleicht ist es aber gerade meine Überempfindlichkeit, meine Sensibilität, die es mir ermöglicht, nicht abgestumpft und ohne dickes Fell, die Welt und mich selbst überhaupt wahrzunehmen.“ „Du hast Recht, es ist Deine Stärke!“ Ab diesem Tag war sich die Wahrsagerin sicher, dass Richtige getan zu haben.
Natürlich sah die junge Frau auch gerne den anderen Reisenden zu. In diesem Jahr neu waren die Tänzer und Tänzerinnen. Sie mochte ihren Tanz, die Bewegungen voller unterschiedlicher Gefühle. Sie begriff, dass das Leben auch ohne Worte gezeigt und empfunden werden kann. Der Tanz berührte sie, ihre Sinne und half ihr, sich intuitiv wahrzunehmen.
Aber die junge Frau war vorsichtig. Auch hier, in der Truppe der Schausteller, blieb sie unnahbar. Darauf angesprochen meinte die Wahrsagerin: „Es ist gut, genauso wie du bist. Gib dich nicht her, verbiege dich nicht. Ein Mann, der dich wirklich liebt, wird dich genau so wollen, wie du bist. Wichtig in der Liebe ist das Verstehen und die Verantwortung. Natürlich besteht immer die Gefahr, mit dem eigenen Sein einen anderen zu überfordern. Kann er mich überhaupt verstehen, fragst du dich.
Verstehen wird einfacher, wenn man ähnliche Erfahrungen hat. Erfahrungen sind aber sehr vielfältig, das heißt, nicht jeder wird dich verstehen können. Aber ohne Verstehen kann man keinen Weg gemeinsam gehen. Wir interpretieren aus unserer Erfahrung heraus das Verhalten anderer Menschen. Das führt vielleicht öfter zu Missverständnissen als zum Verstehen. Das macht es nicht einfach, den richtigen Partner zu finden. Sei vorsichtig mit Kompromissen. Vielleicht ist es ein fauler Komromiss, der dich am Ende unerfüllt und unglücklich macht.“
Noch war die junge Frau unsicher. An einem Morgen beim Frühstück stellte sie der Alten diese Frage: „Laufe ich zu mir hin, mit dem, was ich tue, oder laufe ich vor mir weg. Das ist gar nicht so einfach zu unterscheiden.“ Ohne lange zu überlegen, antwortete die Wahrsagerin: „Manchmal ist weglaufen, Abstand gewinnen, der bessere Weg. Verdrängung ist ein gutes Schutzschild. Vielleicht kann nur ein guter Psychologe deine Traumata der Vergangenheit lösen. Oder sie bleiben besser im verborgenen. Wer weiß schon, was richtig ist. Am Ende, so glaube ich, so schmerzhaft es auch sein mag, ist es immer besser, zu dir selbst hin zu laufen. Dir selbst näher zu kommen. Auch wenn du unter der Last zu zerbrechen drohst. Am Ende hast du ein Lächeln im Gesicht.“
Drei Jahre später wachte die Wahrsagerin eines Morgens nicht mehr auf. Sie war einfach eingeschlafen. Die nun nicht mehr ganz junge Frau war sehr traurig. Sie wusch die alte Frau und zog ihr ihr bestes Kleid an. Dann ging sie zum Pfarrer des Dorfes. Am Tag nach der Beerdigung machte sie sich auf, zusammen mit den Händlern, Gauklern und Wahrsagern. Nun war sie die Wahrsagerin. Und endlich hatte sie einen Namen, wie es auf dem Schild stand: Annabella.
Erstellt am 10.05.2020, letzte Änderung am 13.06.2023 von Michael